Hattinger Erklärung
verabschiedet auf der Vollversammlung vom 27. Juli 2006 in Freiburg
Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren hat sich 1999 mit dem Ziel eines umfassenden und bundeseinheitlichen Studiengebührenverbotes gegründet. Dies war eine Reaktion darauf, dass auf die gleichlautende Versprechung des „rot-grünen“ Koalitionsvertrages von 1998 zunächst keinerlei Initiativen der Bundesregierung erfolgten. Die ehemaligen Oppositionsparteien hatten zwar die Idee des Studiengebührenverbotes aus der studentischen Protestbewegung übernommen, zögerten nun aber mit dessen Umsetzung. Statt dessen nahmen die BefürworterInnen von Studiengebühren in den Koalitionsparteien zu und außerparlamentarischer Druck erschien erforderlich, um diesen Trend umzudrehen.
Das ABS ist seitdem kontinuierlich gewachsen. Die daraus abzulesende gesellschaftliche Ablehnung von Studiengebühren steht in einem deutlichen Widerspruch zur gegenteiligen Politik der parlamentarischen Mehrheiten, sowie der Rechtsprechung. Mehr als ein halbes Jahrzehnt hat das ABS dazu beigetragen, die gesellschaftliche Kontroverse und einen hohen politischen Legitimationsdruck im Hinblick auf Studiengebühren aufrecht zu erhalten. Jetzt allerdings drohen nach der fast flächendeckenden Einführung von Langzeitstudiengebühren mittlerweile auch allgemeine Studiengebühren in vielen Bundesländern.
Alle zugänglichen bildungspolitischen Daten bekräftigen die bestehenden Einwände gegen Studiengebühren und fügen diesen zum Teil neue hinzu. Studiengebühren errichten im Hochschulsystem zusätzliche Hürden, die die soziale Selektivität des gesamten Bildungssystems verstärken. Schlimmer noch: Auch in anderen Bildungsbereichen bleiben Barrieren bestehen und werden gefestigt. So wurde etwa in vielen Kommunen das ohnehin unzureichende Angebot an Kindergartenplätzen weiter verknappt bzw. verteuert, die Selektion im mehrgliedrigen Schulsystem bleibt zementiert, die Lernmittelfreiheit wurde weiter eingeschränkt, die Mittel für außerschulische Kinder- und Jugendförderung wurden schließlich ebenso wie staatliche und privatwirtschaftliche Ausgaben für Weiterbildungsmaßnahmen gekürzt. Das deutsche Bildungssystem bleibt daher heute im internationalen Vergleich dasjenige, in dem Bildungschancen von Kindern am stärksten von der Vermögens-, Einkommens-, und Bildungssituation der Eltern abhängen.
Trotzdem hat die öffentliche Diskussion die Politik bisher nicht bewegen können, entsprechende Schritte hin zu mehr Chancengleichheit zu ergreifen. Im Gegenteil ist durch die nun beschlossene Föderalismusreform zu befürchten, dass neben der Abhängigkeit der Bildungschancen vom Geldbeutel der Eltern in Zukunft auch eine Abhängigkeit vom Wohnort und von der Kassenlage des jeweiligen Bundeslands tritt. Das Beispiel Rheinland-Pfalz, das aus Gründen der Abwehr einer befürchteten „Studentenflut“ auf Gebühren für Nicht-Landeskinder setzt oder das geplante Überschreiten der Gebührenhöhe von 500 Euro in Hessen, beweist dies einmal mehr, dass eine einmal in Gang gesetzte Privatisierung von Bildungskosten einen Selbstverstärkereffekt bzw. eine Abwärtsspirale in der gesellschaftlichen Verteilung von Bildungschancen erzeugt.
Studiengebühren sind Teil eines Gesellschaftsbildes, das die zivilisatorischen Errungenschaften von Sozialstaat, Teilhabe, Mitbestimmung, Umverteilung und prinzipieller Zugangsgleichheit zu Bildungseinrichtungen über Rechtsansprüche durch eine marktfixierte radikale Wettbewerbsideologie ersetzen will. In dieser wird gesellschaftliche Teilhabe nicht mehr über soziale Garantien und bürgerrechtliche Ansprüche, sondern in letzter Konsequenz ausschließlich über die ungleiche Kaufkraft der Privatleute bestimmt.
Das ABS steht vor der Frage, ob und wie sich dieser Negativtrend stoppen und perspektivisch politisch umkehren lässt. Durch die Einführung von allgemeinen Studiengebühren in einem großen Teil Deutschlands ist die Debatte um diese politische Richtungsentscheidung keineswegs entgültig entschieden. Eine gesellschaftliche Zustimmung zu Studiengebühren gibt es nicht.
In dem Maße, wie sich die negativen Konsequenzen der Einführung von Studiengebühren mit Blick auf die Hochschulen und das gesamte Bildungssystem — z. B. in Form einer durch AbiturientInnen verschärften Konkurrenz um immer knappere Lehrstellen – zeigen, können auch die behaupteten Legitimationsgründe für Studiengebühren ihre Wirksamkeit verlieren.
In einer neoliberal geprägten Medienlandschaft geschieht dies allerdings nicht im Selbstlauf. Erforderlich ist außerparlamentarischer Druck und eine von der gesellschaftlichen Basis her organisierte Gegenöffentlichkeit. Dies entspricht dem bisherigen Politikverständnis des ABS und macht daher dessen Weiterarbeit erforderlich. Das heißt, es ist politisch sinnvoll — und keineswegs unrealistisch — neben der Verhinderung weitere Gebührenpläne in einer kurz- oder mittelfristigen Perspektive überall dort, wo Studiengebühren eingeführt wurden, auf ihre Wiederabschaffung hin zu arbeiten. Ein möglicher Erfolg dabei bedingt allerdings eine Vertiefung gesellschaftlicher und politischer Bündnisse weit über die Hochschulen hinaus. Darum muss sich das ABS intensiver bemühen, indem es etwa die gegenseitige Verstärkung negativer Trends in allen Bildungsstufen herausarbeitet und auf dieser Basis die Zusammenarbeit mit SchülerInnen, Elterninitiativen und Gewerkschaften sucht.